Vor jeder Therapie muss eine fundierte Diagnose stehen. Neben der westlich-allopathischen Diagnose ist besonders bei chronischen Erkrankungen die Einordnung in chinesische Diagnosekategorien für den Erfolg der Therapie unentbehrlich. Diagnosekategorien Schon früh in der Entwicklung der chinesischen Medizin haben sich diagnostische Kategorien anhand des philosophischen Systems der Yin-Yang-Polarität herauskristallisiert. Auch die naturphilosophischen Vorstellungen des Taoismus und das Entsprechungssystem der fünf Wandlungsphasen trugen zur Differenzierung der Diagnostik in der chinesischen Medizin bei (siehe Kapitel 2). Die Entwicklung dieses diagnostischen Systems ging Hand in Hand mit der Entwicklung des Therapiespektrums. Im Westen war zunächst nur die Nadeltherapie bekannt. Erst in den letzten Jahren wird auch dem diagnostischen System der chinesischen Medizin mehr Beachtung gewidmet, obwohl beide, Diagnostik und Therapie, zusammengehören. Die chinesische Medizin ordnet die individuellen Symptome und Krankheitsbefunde in polare Kategorien ein. Man kennt acht diagnostische Kategorien, chinesisch Ba Gang. Es sind die vier polaren Spektren:
Yin und Yang
Innen und Außen
Schwäche und Fülle
Kälte und Hitze
Die Symptome einer Funktionsstörung oder einer Erkrankung werden analysiert und in diese vier diagnostischen Spektren eingeordnet. So entsteht eine Diagnose im chinesischen Sinne. Der chinesische Arzt beurteilt die individuellen Symptome und Befunde in Kategorien einer Disharmonie in den Organen bzw. Meridianen und kommt so zur Feststellung von „Störungsmustern“ der Lebensenergie Qi. Im Westen werden sie „Syndrome“ im chinesischen Sinne genannt. Chinesische Syndrome meint nicht nur die Summe der Symptome, sondern auch ihre Ursache und Interpretation als Störungsmuster nach den Vorstellungen des chinesischen Medizinsystems. Beispiele chinesischer Syndrome sind die „Schwäche des Nieren-Qi“ oder die „Fülle des Leber-Yang“. Von den ca. 40 chinesischen Syndromen kommen zehn Syndrome sehr häufig vor und spielen in der Praxis der chinesischen Medizin eine wichtige Rolle.
Im Folgenden werden die acht diagnostischen Kategorien erläutert, denen bei der chinesischen Diagnosestellung eine essentielle Bedeutung zukommt. Yin und Yang als übergreifende diagnostische Kategorien sind allgemeingültig und auf alle Phänomene anzuwenden. Sie bilden die primären Kategorien einer Diagnose im chinesischen Sinne, man spricht von Yin- oder Yang-Störungen. „Innen“ und „Außen“ bezieht sich auf den Ort der Erkrankung, entweder inneres Organ oder oberflächlich gelegene Meridiane.
Innere Störungen sind Disharmonien der inneren Organe und zwar der fünf Yin-Organe und der sechs Yang-Organe. Die Störungen dieser inneren Organe sind oft chronischen Charakters, gekennzeichnet durch Schmerzen im Bereich des Brustkorbs oder des Bauches, Fieber, Störungen der Magen-Darm-Funktionen wie Brechreiz, Durchfall, Übelkeit usw. Gleichzeitig können Schmerzen entlang der Meridiane ausstrahlen. Die chinesische Medizin sieht innere Erkrankungen meist durch „innere“ Ursachen bedingt; so z.B. Störungen der Organsysteme durch ein Übermaß an Gefühlen wie Angst, Schrecken oder Erregung, oder durch unzureichende oder falsche Ernährung.
Äußere Erkrankungen sind gekennzeichnet durch Störungen der Meridiane an der Peripherie und Oberfläche des Körpers. Sie zeigen sich meist in Schmerzen im Bereich der Gliedmaßen, der Gelenke oder des Kopfes, sowie in erhöhter Empfindlichkeit gegen klimatische Einflüsse. Typische äußere Störungen sind Neuralgien und Gelenkschmerzen. Als Ursache betrachtet die chinesische Medizin äußere klimatische Einflüsse wie Kälte, Hitze, Feuchtigkeit, Wind oder Trockenheit. Die Therapien äußerer und innerer Störungen in der chinesischen Medizin sind grundverschieden, weshalb diese diagnostische Kategorisierung entscheidende Konsequenzen für die Therapieplanung hat.
Schwäche und Fülle (Übermaß) beziehen sich auf die Quantität der Lebensenergie Qi, von der die Funktion – zu schwach oder zu stark – abhängt. Schwächestörungen sind gekennzeichnet durch eine Schwäche der Lebensenergie Qi oder einen Mangel daran, was zu einer Minderfunktion von Organsystemen führt. Typische Schwächesymptome sind Müdigkeit, Schwächegefühle, Blässe der Haut, depressive Stimmungslage, Abgeschlagenheit, Schwindel und verlangsamte Bewegungen. Eine ausgeprägte Schwächestörung äußert sich in Symptomen wie Kollapsneigung, Mangeldurchblutung, plötzlichen Schweißausbrüchen, Mundtrockenheit und Mangel an Körperflüssigkeiten. Auch degenerative Erkrankungen werden zu den Schwächestörungen gezählt.
Schwächeerkrankungen sind meist chronischen Charakters, oft gekennzeichnet durch eine allgemeine Mangeldurchblutung. Die Ursachen sind gewöhnlich eine Erschöpfung des Qi im Alter oder innere oder äußere krankmachende Einflüsse über einen längeren Zeitraum. Es gibt verschiedene Erscheinungsformen von Schwäche: Schwäche des Qi, des Yang und des Yin.
Unter Schwäche des Qi versteht man eine Minderfunktion z.B. von Organen. Bei einer Schwäche des Yang kommen zu den Unterfunktionen noch Kältesymptome hinzu. Yin-Schwäche bezeichnet eine Schwäche des Yin-Anteils der inneren Zang-Organe, d.h. der Struktur bzw. Substanz dieser Organe, die die Basis der Organfunktionen bildet.
Bei Krebserkrankungen, Aids, Tuberkulose oder längerer Kortisoneinnahme findet man eine ausgeprägte Schwäche des Yin.
Füllestörungen sind gekennzeichnet durch einen Überschuß von Qi oder Blut z.B. in Organen. Auch Blockaden von Meridianen sind oft begleitet von einer Überfülle. Typische Symptome sind Schmerzen, Krämpfe, erhöhter Blutdruck, Hautrötungen, erhöhte Muskelspannung und vermehrte Absonderung von Körperflüssigkeiten. Die wichtigsten Zeichen sind gerötete Zunge, Rötung des Gesichts sowie kräftiger Puls. Im psychischen Bereich zeigen sich innere Unruhe, Nervosität, Übererregung, Rastlosigkeit, ungezielte Aktivitäten sowie oft Schlaflosigkeit.
Kälte und Hitze sind Beschreibungshilfen für bestimmte Symptomkomplexe, die eine wichtige Rolle bei der Diagnosefindung und Kategorisierung spielen.
Kältestörungen treten auf, wenn äußere Kälte auf einen Körper einwirkt, dessen Lebenskräfte geschwächt sind. Dann manifestieren sich typische Kältesymptome wie übermäßiges Frieren, kalte Gliedmaßen und Blässe. Nach längerem Bestehen entwickeln sich Erkältungskrankheiten, Verlangsamung der psychischen Aktivitäten oder wäßrige Durchfälle. Kältestörungen zeigen meist einen chronischen Charakter. Durch die übermäßige Aktivität der Körperabwehr schlagen Kältestörungen häufig in Fieber, ein Hitzesymptom, um.