Grundlagenforschung

Akupunkturanalgesie

Neurophysiologische Grundlagenforschung

 

Erst von 1972 an, als diplomatische Besuche in China häufiger wurden, begannen westliche Wissenschaftler, die Akupunktur ernst zu nehmen. Delegationen amerikanischer Ärzte waren in den folgenden Jahren besonders beeindruckt von größeren chirurgischen Eingriffen, die die Chinesen an Patienten bei wachem Bewußtsein durchführten, deren Schmerzempfindung durch die Akupunkturanalgesie im wesentlichen ausgeschaltet war. Anstatt die Akupunkturpunkte durch manuelles Drehen der Nadeln zu stimulieren, wurde die Stimulation hier durch elektrischen Strom von etwa derselben langsamen Frequenz (2–4 Hz) bewirkt. Dies ist natürlich sehr viel praktischer als unter die Operationstücher zu greifen, um stundenlang von Hand die Nadeln zu stimulieren.

Die neue Methode nennt sich Elektroakupunktur (EA) oder Elektrostimulationsakupunktur. Besuchern wurde mitgeteilt, daß in den 60er Jahren über 400 000 größere chirurgische Eingriffe in China unter AA durchgeführt wurden. Heute, wo chemische Anästhetika auch in China leichter zu bekommen sind, werden weniger als 10% der Patienten mit AA operiert, weil die Methode verhältnismäßig schwierig in der Anwendung, zeitraubend und nicht hundertprozentig zuverlässig ist. Außerdem wird AA in der Bauchchirurgie wenig eingesetzt, da die notwendige Muskelrelaxation durch sie nicht geleistet wird. Die AA erfordert, daß die Patienten sorgfältig ausgewählt und vorbereitet werden, um sicherzustellen, daß ihnen nicht während der Operation schlecht wird. Auch wenn die AA den Schmerz zum größten Teil aufhebt, können viele Patienten doch bei wachem Bewußtsein den psychologischen Streß der Operation nicht ertragen. Aus diesem Grund wurden zahlreiche Operationen unter AA nach einer entsprechenden Prämedikation (Tranquilizer, Opiate) durchgeführt; dies hat dann zu beträchtlichen Kontroversen über die Wirksamkeit der AA im Zusammenhang mit chirurgischen Eingriffen Anlaß gegeben. Neuere Statements aus China deuten obendrein an, daß unter dem Mao-Regime Mogeleien vorgekommen sind, um die Möglichkeiten der Akupunkturanästhesie in übertrieben günstigem Licht darzustellen: Zusätzliche Medikamente waren oft im Spiel, wenn angeblich keine solchen verabreicht wurden.

In den westlichen Ländern war in den letzten Jahren die Indikation der Akupunktur im wesentlichen auf die Behandlung chronischer Schmerzzustände beschränkt; bei chirurgischen Eingriffen wurde sie bis auf wenige Ausnahmen kaum benutzt. In einer neueren Studie über Zahnextraktion erbrachte die Akupunktur keine Absenkung der Schmerzintensitäten [48 a]. In einigen westlichen Ländern wird allerdings die Akupunkturanalgesie in Kombination mit Lachgas eingesetzt, wobei dem Patienten genügend Anästhetikum gegeben wird, um ihn bewußtlos sein zu lassen, jedoch nicht genug für eine Analgesie [76, 83 b]. Auf der anderen Seite waren jedoch zunächst viele westliche Ärzte sogar skeptisch hinsichtlich der Behandlung chronischer Schmerzzustände, trotz der reichhaltigen kasuistischen Beobachtungen sowohl aus China als auch aus Europa.

Wie sollte eine in die Hand eingestochene Nadel einen Zahnschmerz lindern können? Da solche Phänomene nicht ohne weiteres in das vorhandene physiologische Wissen paßten, waren die Wissenschaftler verunsichert und skeptisch. Viele erklärten die beobachteten Wirkungen durch den wohlbekannten Placeboeffekt, der durch Suggestion, Ablenkung oder auch Hypnose funktioniert [199, 200]. So hatte Beecher 1945 gezeigt, daß Morphium bei 70% der Patienten chronische Schmerzen erleichterte, Traubenzuckerinjektionen (Placebo) dagegen nur bei 35% der Patienten, wenn sie glaubten, sie bekämen Morphium [11].

In derselben Weise, so nahmen viele medizinische Wissenschaftler in den frühen 70er Jahren an, könne auch die Akupunkturwirkung als Placebo — also als rein psychologischer Effekt — aufgefaßt werden. Aber mit dieser Deutung gab es verschiedene Schwierigkeiten. Wie wollte man sich denn dann den Gebrauch der AA in der Tiermedizin während der letzten 1000 Jahre in China und während etwa 100 Jahren in Europa, sowie ihre fortschreitende Verwendung bei Tieren auch in Westeuropa und den USA erklären? Tiere unterliegen nicht der Suggestion in diesem Sinn, und nur bei wenigen Arten beobachtet man die „still-reaction“ (sog. Tierhypnose). In ähnlicher Weise ist auch die AA-Wirkung bei kleinen Kindern zu beurteilen. Verschiedene psychologische Untersuchungen zeigten keine gute Korrelation zwischen der Suggestibilität der Patienten und der Akupunkturwirkung [98]. Die Hypnose wurde als Erklärung ebenfalls ausgeschlossen. In zwei Studien wurde gezeigt, daß Naloxon bei Hypnose und Akupunkturanalgesie unterschiedliche Reaktionen hervorruft: die Akupunkturanalgesie wird durch Naloxon aufgehoben, die Hypnose bleibt durch diesen Endorphinantagonisten unbeeinflußt.

Bis 1973 waren die Beweise für die AA hauptsächlich kasuistisch — eine ungeheure Masse von Einzelfallbeschreibungen von einem Viertel der Weltbevölkerung. Leider gab es nur wenige wissenschaftlich kontrollierte Experimente, um die Skeptiker zu überzeugen. In den letzten 20 Jahren hat sich die Situation jedoch grundlegend geändert. Die Wissenschaftler haben sich mit zwei wichtigen Fragen auseinandergesetzt:

Wirkt die Akupunkturanalgesie tatsächlich — also über einen physiologischen und nicht nur Placebo-/psychologischen Effekt? Wenn sie wirkt, dann auf welchen physiologischen Wegen?

Die erste Frage (wirkt sie?) mußte mit Hilfe kontrollierter Studien angegangen werden, um Placeboeffekte, Spontanremissionen u. ä. mit statistischer Signifikanz aussieben zu können. Solche Studien wurden durchgeführt in der klinischen Praxis mit Patienten, die unter chronischen Schmerzsyndromen litten (s. 2.2); im Laboratorium mit Versuchspersonen, die akuten, experimentell induzierten Schmerzreizen ausgesetzt wurden (s. 2.5), und in Tierversuchen (s. 2.5). Aus zahlreichen Studien geht hervor, daß die Akupunkturanalgesie sehr viel besser wirksam ist als ein Placebo.

Hieraus folgt, daß die AA eine physiologische Basis haben muß. Aber welches sind ihre möglichen Mechanismen? Nur die Antwort auf diese Frage kann den tiefen Skeptizismus gegenüber der Akupunktur ganz zerstreuen.

Aus: Stux, Stiller, Pomeranz (1999); Akupunktur – Lehrbuch und Atlas, Kapitel 2, 5. Auflage, Springer Verlag, Berlin Heidelberg New York