Standardisierte Therapie oder Heilkunde
Nach dem fragwürdigen Beschluss des gemeinsamen Bundesausschusses stellten sich viele Fragen zur Zukunft der Akupunktur. Ein soeben erschienener hervorragenden Artikel von Prof. Paul Unschuld, Medizinhistoriker aus München im Deutschen Ärzteblatt, Heft 17: A 1136 ff. beleuchtet einige dieser Fragen auf eine sehr wesenhafte Art. Der Patient als Leidender und Kunde beschreibt die historische Entwicklung der Medizin von der Antike bis zum 19. bzw. 20. Jahrhundert und zeigt einen paradigmatischen Wandel auf, der gerade jetzt in Gang kommt, weg von „mechanistisch, standardisierbare Therapien“ im „Korsett der Fallpauschalen“ mit DRG’s zu einer kundenorientierten Medizin. Eine neue Medizin in der der Patient zum Kunden wird, muss die Bedürfnisse der Patienten nach Heilung sehr viel stärker berücksichtigen. Ein höheres Maß an Effektivität, d. h. therapeutischer Wirksamkeit wird gefragt sein. Lesen Sie hier einige Ausschnitte oder den vollständigen Beitrag: „ Patienten, die in einem nach Fallpauschalen durchrationalisierten Gesundheitswesen nicht die Antwort auf ihre spezifischen Probleme finden, werden sich eine neue Heilkunde schaffen – außerhalb der Medizin. Medizin folgt keiner Eigengesetzlichkeit, sondern den Bedürfnissen der Patienten. Diese Bedürfnisse können körperlicher oder seelischer Natur sein. Sie können aber auch, wie aus der Plastischen Chirurgie hinreichend bekannt, modischer Natur sein und ihre Forderungen an die Medizin aus einer Verbindung psychologischen Drucks mit körperlichen Wunschvorstellungen formulieren. Medizin ist also ein kulturelles Produkt. Sie wurde der Menschheit nicht per Evolution irgendwann einmal gegeben. Medizin war in ihren Anfängen die Reaktion der Menschheit auf die existenzielle Bedrohung durch Kranksein und auf die Gefahr frühen Todes. Sie war jedoch auch von Beginn an mit dem Wissen und der Fähigkeit verknüpft, Dienstleistungen zu erbringen, die nur indirekt mit Leid und Todesnot zusammenhingen. Die Abtreibung sei hier genannt als ein Gebiet, auf dem die Medizin sich immer schon als Dienstleister bewährt hat – legal oder illegal, aber stets in dem Bemühen, Frauen zu Diensten zu sein, die sich – aus vielfachen Erwägungen heraus – der natürlichen Frucht des Leibes vorzeitig und endgültig zu entledigen suchten. Die Medizin war auch dort Dienstleister, wo sich die Kenntnis der Gifte als nützlich erwies, um einem Konkurrenten auf den Thron oder einem Erben vorzeitig zu einem Vermögen zu verhelfen.
Gesunde Bürger für den Staat
Die Ambivalenz, beides zu können – das Leben vielleicht aus gefährlichster Krankheit zu retten, aber auch den Tod vorzeitig herbeizuführen – führte früh zu der Notwendigkeit, sich der Öffentlichkeit zu erklären, Zweifel zu zerstreuen, und damit zu expliziter Ethik und selbst erklärter Pflichtenlehre. …Der Patient als Leidender und Kunde, der sich die Medizin nach seinem Willen schuf, kann bis in die Antike zurückverfolgt werden. Im antiken Griechenland zog der Arzt noch als Therapeut und Dienstleister von Ort zu Ort. Die Höhe des Honorars richtete sich nach den Möglichkeiten des Patienten, aber ebenso nach dem Ruf, der dem Arzt voranging. Die Vorstellung, ärztliche Leistung per se zu honorieren, auch wenn sie nicht den gewünschten Erfolg gebracht hatte, bildete sich erst sehr viel später heraus. Bis in das 18. Jahrhundert folgte die Medizin einem relativ einfachen Schema. Wer sich einen guten Arzt leisten konnte, fand einen guten Arzt. Wer sich keinen guten Arzt leisten konnte, fand keinen guten Arzt. Das änderte sich im 18. Jahrhundert grundlegend. Tatsächlich hat das europäische Gesundheitswesen seine einzigartige Struktur erst zu der damaligen Zeit angenommen, und das schließt auch eine einzigartige Arzt-Patienten-Beziehung ein. Im 18. Jahrhundert wurde der Ärzteschaft eine Rolle übertragen, die ihr erstmals zu der herausragenden gesellschaftlichen Achtung verhalf, von der sie noch heute zehrt. Damals übernahm die Ärzteschaft die Anwaltschaft für die gesamte Bevölkerung. Das war keine Verordnung, die von einem Tag auf den anderen erlassen wurde. Das war eine Entwicklung, die sich aus einer Erfordernis ergab, in der Konkurrenz der neu erwachten Nationalstaaten die Grundlagen für starke Nationalheere und produktive Manufakturen zu schaffen. Die Volkswirtschaftler des 18. Jahrhunderts – und nicht ein plötzlich erwachtes Mitleid – flüsterten den feudalen Herrschern ein, dass der starke Staat von starken, das heißt gesunden Bürgern abhänge. Je mehr gesunde Männer, umso stärker die Heere, je mehr gesunde Männer und Frauen, umso produktiver die Manufakturen, je mehr gesunde Frauen und Mütter, umso mehr gesunde Kinder und somit Nachwuchs für die Heere und die Manufakturen.