Aus der Frankfurter Rundschau, von Karl-Heinz Karisch

Hier einige Ausschnitte: „Nichts für schwache Nerven. Professor Anton Jayasuriya schiebt einer hochschwangeren Frau zwei sehr lange Akupunkturnadeln in die Bauchdecke. Anschließend öffnet er mit dem Skalpell den Unterbauch für eine Kaiserschnitt-Geburt.

„Die Patientin hat zuvor keine schmerzstillenden oder betäubenden Medikamente erhalten“, erläutert eine freundliche Frauenstimme. Offensichtlich ist die Frau bei vollem Bewusstsein. Auch die sonst übliche Blutung sei stark verringert, wird erklärt. Mit Schwung befördert der Professor kurze darauf das Kind ans Tageslicht. Der erste Schrei erklingt. Stolz betrachtet die Mutter ihr Kind und streichelt es.

Das bemerkenswerte Filmdokument stammt aus dem Jahr 1978. Dr. Gabriel Stux (60), der Vorsitzende der Deutschen Akupunktur Gesellschaft, hat die Operation damals an der Universitätsklinik Kalubowila in Sri Lanka aufgezeichnet. Denn China selbst, die Heimat der Akupunktur, war in den schwierigen Jahren nach der Kulturrevolution für westliche Mediziner noch abgeschottet.

Umso größer war das Interesse in den westlichen Industrienationen an der alten chinesischen Heilmethode. Dabei hatte sie im eigenen Land lange nichts mehr gegolten. Angesichts der Erfolge der westlichen Medizin war die Akupunktur seit 1929 in China verboten. Mehr oder weniger aus Kostengründen aktivierte der chinesische Parteivorsitzende Mao Tse-tung seit 1958 die Traditionelle Chinesische Medizin wieder, die er ein „großartiges Schatzhaus“ nannte.

Den Siegeszug der Akupunktur im Westen löste ungewollt der frühere US-Präsident Richard Nixon aus. Er kündigte 1971 überraschend an, er wolle das politisch vom Westen isolierte Land besuchen. Zur Vorbereitung der Reise fuhr der Reporter der New York Times, James Reston, im Juli nach Peking. Dort quälte ihn eine akute Blinddarmentzündung, die im Antiimperialistischen Krankenhaus Peking von den besten Chirurgen des Landes operiert wurde.

Als Reston am nächsten Tag über starke Schmerzen und Blähungen klagte, erhielt er keine Schmerzmittel. Stattdessen kam Li Chang-yuan, der Akupunkteur der Klinik. „Mit meiner Erlaubnis stach er drei lange dünne Nadeln in meinen rechten Ellenbogen und unterhalb des Knies“, schrieb Reston in seinem Bericht für die New York Times. ….“

Die Behandlung machte den US-Patienten schmerzfrei, seine quälenden Winde konnten endlich entweichen. Restons am 26. Juli 1971 veröffentlichte Reportage in eigener Sache löste den Siegeszug der Akupunktur im Westen aus. Auch den jungen Medizinstudenten Gabriel Stux beeindruckten die Berichte.

Damals las er gerade die Schriften des Psychoanalytikers Wilhelm Reich (1897-1957), der in der Studentenbewegung wiederentdeckt worden war. In Reichs Konzept einer universell strömenden Lebensenergie (Orgon) für die Körpertherapie erkannte Stux Ähnlichkeiten zur chinesischen Vitalkraft Qi, die das Universum durchdringt. Das Qi enthält die Gegensatzpaare Yin und Yang, die im gesunden Körper im Einklang stehen.

Es waren schwierige Anfangsbedingungen. Nach ersten Studien der Akupunkturpunkte, die die gestörten Lebensenergien wieder fließen lassen sollten, konnte Stux nicht loslegen – es gab damals keine Akupunkturnadeln zu kaufen. „Bei einem befreundeten Juwelier habe ich Gold- und Silbernadeln herstellen lassen, aber die waren nicht spitz genug“, erinnert er sich.

Da er als Medizinstudent damals auch nicht nach China einreisen durfte, fuhr er Anfang der 70er Jahre nach Sri Lanka. Dort besuchte er Professor Anton Jayasuriya, der Akupunktur studiert hatte. Der demonstrierte gleich die Wirkungsweise der Nadeln. „Ich hatte einen schlimmen Sonnenbrand und konnte vor Schmerzen kaum laufen“, sagte Stux. Drei Nadeln setzte Jayasuriya. Stux: „Der Schmerz war weg.“

Als Stux dann Anfang der 80er Jahre das erste Mal nach China durfte, war der Eindruck ernüchternd. „Alle trugen damals noch die uniforme Einheitskleidung, mit den Ärzten durften wir nicht direkt sprechen“, berichtet er. Erst 1984 sei das gelockert worden. Da sei er sogar von einem Professor privat eingeladen worden.

Professor Thomas Ots, Chefredakteur der Deutschen Zeitschrift für Akupunktur, geriet ebenfalls sehr früh mit der chinesischen Heilmethode in Kontakt. „Ich hatte mir 1976 die Schulter verrissen und suchte Dr. Knut Sroka auf, den damals einzigen mir bekannten Akupunkteur in Hamburg“, berichtet er.

Ots erlebte in Srokas Praxis eine Sekundenheilung. Kaum war die Nadel im Meridian-Punkt „Magen 38“ eingestochen – er liegt in der Mitte des Unterschenkels außen – waren bei Ots der Schmerz und die Bewegungseinschränkung wie weggeblasen.

Aber warum hatte Ots sich überhaupt an einen Akupunkteur gewandt? „Ich war damals noch Maoist, habe mich in der Gesellschaft für Deutsch-Chinesische Freundschaft engagiert und die Peking Rundschau gelesen, suchte nach einer besseren Gesellschaft, da lag das auf der Hand“, berichtet er.

Ots (61) hatte 1972 das Examen abgelegt und war zum Zeitpunkt seines ersten Akupunkturstiches Arzt in Ausbildung. 1978 ging er dann für zwei Jahre nach China und war fortan „für die normale Medizin nicht mehr zu gebrauchen“, wie er sagt. Es waren die Jahre nach dem Ende der Kulturrevolution, die für Ots den umjubelten Vorsitzenden Mao mehr als entzauberten: „Die Unterdrückung freier Gedanken – einer meiner besten chinesischen Freunde saß zwei Jahre im Umerziehungslager – hat mich sehr mitgenommen.“…

Reihenweise seien damals Studien gefälscht worden: Erfolgsergebnisse von 90 Prozent sind bei chinesischen Forschungsberichten die Regel. Negative Ergebnisse werden einfach nicht berichtet. Ots: „Wir haben im Westen in der Forschung eine höhere Ethik. In China muss aus politischen Gründen oft immer noch nachgewiesen werden, dass etwas wirksam ist, nicht, ob und wie etwas wirksam ist.“

Über seine zwiespältigen Erfahrungen schrieb Ots dann 1981 in der Zeitschrift „Das neue China“. Es war die Zeit der Ent-Maoisierung. …

Die Professoren GanXichen und Tao Naihuan gestanden damals in der chinesischen Tageszeitung „Wen Hui Bao“ die Wahrheit: „In vielen Fällen hatten die Patienten schreckliche Schmerzen, konnten aber nicht einmal schreien, sondern mussten angesichts der politischen Zwänge der Zeit Parolen rufen.“ …. Ots, der in Peking und Shanghai vielen Operationen beigewohnt hatte, bestätigte diese Schilderungen in seinem Bericht von 1981 nur teilweise. „Die meisten Operationen verliefen gut, teilweise war ich richtig begeistert, doch ich sah auch wenige Fälle, wo die Patienten Schmerzen hatten, ein Patient einer Herzoperation fiel gar in Ohnmacht.“

Auch einen Anspruch auf eine ganzheitliche Medizin habe es seinerzeit in China nicht gegeben, berichtet Ots heute. Die Ärzte hätten sich nur selten mit den Patienten unterhalten. Erst in den Jahrzehnten danach wurde die Akupunktur auf ein breiteres, auch psychosomatisches Fundament gestellt.

Vor allem bei Migräne und Kopfschmerzen, bei Schmerzen des Bewegungsapparates, etwa Rheuma, aber auch bei Magenschmerzen, Blasenentzündung und vielen funktionellen Leiden sieht Ots heute gute Behandlungschancen.

Die großen Studien der deutschen Krankenkassen haben das eindrucksvoll belegt. Anfang der 80er Jahre hatte die Deutsche Ärztegesellschaft für Akupunktur nur 2000 Mitglieder, heute sind es mehr als 11 000. Insgesamt akupunktieren in Deutschland 35 000 Ärzte und Heilpraktiker. „Was viele Menschen im Westen nicht wissen: In China ist unsere Schulmedizin die führende Medizinform“, stellt Ots fest. „Wir haben damit in China ein zweigleisiges System. Patienten gehen bei bestimmten Störungen zur einen Medizin, bei anderen Störungen zur anderen Medizin.“ Und obwohl China das Mutterland der Akupunktur ist, glaubt Ots, dass Deutschland und Großbritannien heute qualitativ und quantitativ weltweit führend sind, dass von Europa die entscheidenden Impulse für eine Weiterentwicklung der Akupunktur und für eine integrative Medizin ausgehen.“